Das Weihnachtswunder

Lilje war ein entzückendes kleines Mädchen. Sie hüpfte und hopste, wo andere gingen. Sie lachte viel und freute sich über jede kleine Blume, bestaunte Käfer und Regenwürmer und hatte eine besondere Vorliebe für Schnecken.

 

Sie baute ihnen kleine Hütten und gab alles hinein, was den kleinen Tierchen gefallen könnte: Gräser und Beeren zum Fressen, Blättchen zum einkuscheln und zum Schutz und allerlei kleine Stöckchen, Eicheln, Bucheckern und andere Früchte des Waldes, damit sie etwas zum Erkunden hatten. Schließlich sollten sie sich wohlfühlen und bleiben. Jedoch schloss Lilje die Tierchen nicht ein. Und so entkamen sie immer wieder. Das machte Lilje anfangs traurig. Sie hatten es doch so gut bei ihr! Doch Mama tröstete sie und erklärte ihr, dass die Schneckchen immer nur eine Weile da sein konnten. Sie hatten sicher auch Familie und Freunde, die sie wiedersehen wollten. Das sah Lilje ein und nahm es ihren kleinen Freunden nicht mehr übel. Sie suchte sich dann neue Gefährten, um die sie sich kümmern konnte.

 

Ja, Lilje war verständig für ihr Alter. Und sehr wissbegierig. Sie erkundete ihre kleine Welt voller Freude und Neugier und stellte ihrer Mama hunderte kluger Fragen:

Wieso sind große Menschen so ernst?

Was machen Tiere, die kein Zuhause haben?

Warum ist es morgens hell und abends dunkel?

Warum schwimmt das Blatt auf der Pfütze und das Steinchen nicht?

 

Und ihre Mama, die sie von Herzen liebte, erzählte ihr davon, dass große Menschen manchmal die Freude über die kleinen Dinge verloren und oft zu wenig draußen waren, um die Wunder des Lebens zu bestaunen. Sie erzählte davon, wie und wo sich Tiere unterschiedliche Unterschlüpfe suchten und bauten und was es mit der Sonne, dem Mond, den Steinen und den Blättern auf sich hatte und Vieles mehr.

Und so erkundeten sie die Welt gemeinsam. Und die Mama dankte Gott oft für das Geschenk, das er ihr mit ihrer liebenswerten kleinen Tochter gemacht hatte.

 

Am Wochenende ging Lilje mit ihren Eltern oft in den nahen Wald. Dann kletterten sie auf Bäume, balancierten über Baumstämme, befühlten die Rinde verschiedener Bäume und sammelten allerlei Kräuter, Nüsse und die Samen der Brennnessel für sich und Stöckchen, Blätter und Moos für die Hütten der Schnecken.

 

Lilje war ein glückliches Kind. Und darum machte sie alle glücklich, die mit ihr zusammen waren.

Besonders liebte Lilje die Advents- und Weihnachtszeit. Am ersten Wochenende im Advent durfte sie der Mama helfen, die Wohnung zu schmücken. Sie hängten Lichterketten und Sterne in die Fenster, die bei Einbruch der Dunkelheit zu leuchten begannen und es drinnen so richtig gemütlich machten.

 

Sie stellten einen Adventskranz mit dicken roten Kerzen auf den Wohnzimmertisch. Der duftete so herrlich nach Tannenwald! Und was es darin alles zu entdecken gab: Zimtstangen und Bienenwachssterne, getrocknete Orangenscheiben, rote Glasherzen und Anissterne. Für Lilje war es der schönste Adventskranz der Welt! Und wie er duftete…

 

Wann immer es möglich war, setzten sich Mama oder Papa mit ihr aufs Sofa, zündeten den Adventskranz an und lasen ihr Geschichten vor. Das gefiel Lilje am allerbesten an der Adventszeit. Und wenn sie dann noch einen Lebkuchen oder einen Zimtstern bekam, war ihr Glück perfekt.

 

Und dann backten sie Weihnachtsplätzchen. Zwar liebte Lilje Zimtsterne ganz besonders, aber backen wollte sie immer nur Butterplätzchen. Weil sie die am liebsten verzierte. Und Lilje hatte tatsächlich ein großes Talent dafür. Alles was klein und zierlich war und großer Genauigkeit und Sorgfalt bedurfte, ging ihr leicht von der Hand.

 

In diesem Jahr hatte sie sich ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk überlegt: Sie hatte aus gefärbtem Wachs eine kleine Weihnachtskrippe geknetet: Maria mit ihrem blauen Mantel, Josef in braun, mit Stock und Hut und das Christuskindchen ganz in weiß in einer Walnussschale, die mit Wolle ausgekleidet war. Aber auch Ochs und Esel, einige kleine Schäfchen und ein Schäferjunge waren unter ihren kreativen kleinen Händen entstanden.

 

Und dann kam Samstag, der 23. Dezember. Schon morgen sollte es Weihnachten werden und sie konnte es kaum erwarten, zu sehen, was die Eltern wohl zu ihrem Geschenk sagen würden.

 

Die Familien-Krippe war aus Holz geschnitzt. Und am Morgen hatte Lilje die Figuren von Josef und Maria mit dem Esel, auf dem Maria saß, endlich in den Stall stellen dürfen. Es war ihr tägliches kleines Adventsritual, die Figuren von einem Ende des Wohnzimmers - täglich ein kleines Stückchen weiter – zum Stall laufen zu lassen. Neben dem Öffnen des Törchens ihres Adventskalenders selbstverständlich. Beides liebte sie sehr.

 

Nach dem Mittagessen ging sie in den Garten, um nach ihren Schnecken zu sehen. Da erschrak sie sehr: Neben der kleinen Schneckenhütte lag ein lebloses Vögelchen. Es war ein wunderhübsches Kerlchen mit bräunlichem Federkleid und einem roten Bäuchlein. Lilje hockte sich vor das Tierchen und stupste es vorsichtig an. Es regte sich nicht. Da hob Lilje es auf und rannte ganz aufgeregt und laut „Mama“ rufend in die Küche. Wenn einer das Vögelchen retten konnte, dann Mama! Aber Mama telefonierte und bedeutete Lilje, leise zu sein. Sie sah Lilje gar nicht richtig an. Da rannte Lilje die Treppen hoch und rief laut nach Papa. Aber dann fiel ihr ein, dass der heute arbeiten musste. Sie fing an zu weinen. Ihrem kleinen Freund musste doch schnell geholfen werden!

 

Als sie wieder unten war und laut schluchzte, hatte ihre Mama gerade aufgelegt. Lilje bettete das Vögelchen auf das Sofakissen und rieb sich über die nassen Augen. Mama drehte sich jetzt zu ihr und sagte barsch “Lilje, was machst du denn damit dem toten Vogel? Oh nein, jetzt reib dir doch nicht durchs Gesicht, nachdem du ihn angefasst hast. Und nimm ihn vom Kissen runter. Wir können ihn später draußen beerdigen. Komm, wir waschen schnell dein Gesicht. Ich muss jetzt dringend weg. Kannst du eine kurze Weile allein bleiben? In 10 Minuten kommt Papa nach Hause.“

 

„Mama, der Vogel ist nicht tot! Er ist noch ganz warm. Du kannst ihn bestimmt gesund machen! Du kannst jetzt nicht weggehen!“

„Liebe Lilje“, sagte ihre Mama, ihr das Gesicht mit einem weichen Lappen waschend. „Ich kann dem Vogel nicht mehr helfen. Er ist tot. Und tote Vögel können Krankheiten übertragen. Darum bringen wir ihn jetzt rasch hinaus, waschen dir die Hände und dann muss ich los. Die Oma ist gestürzt und ins Krankenhaus gekommen. Ich muss schnell zu ihr. Und Papa ist ja gleich hier. Bitte sei jetzt lieb und warte hier auf ihn.“ Und unter Liljes lautem Protest trug sie den Vogel in den Garten und fuhr weg.

 

Lilje war allein. Sie weinte. War der kleine Vogel wirklich tot? Warum nur? Er war so hübsch und sah so zerbrechlich aus. Sie musste ihn sofort begraben! Also ging sie hinaus in den Garten. Sie holte eine kleine Schüppe aus dem Gartenhäuschen. In dem Moment kam ein kleines braunes Tier über die Mauer gesprungen, sah den Vogel dort liegen, stürmte darauf zu, schnappte sich den toten Freund und hastet zurück auf die Mauer. Dort blieb es sitzen.

 

Das Ganze ging so schnell, dass Lilje mit offenem Mund zusah. Als ihr klar wurde, dass ihr Freund verspeist werden sollte, schrie sie laut und verzweifelt “Nein, du darfst meinen Freund nicht fressen! Bring ihn zurück! Ich will ihn doch begraben.“ Und sie rannte zum Gartentörchen neben der Mauer, auf dem das flinke Tier saß. Da erschrak dieses und sprang auf der anderen Seite hinunter. Und Lilje rannte hinterher. In wildem Tempo ging es die Straße entlang in den nahen Wald. Lilje konnte schnell rennen. Sie war sicher, dem bösen Tier ihren kleinen Freund entreißen zu können. Doch nach einiger Zeit wurde sie langsamer und musste heftig atmen. Sie bekam Seitenstiche und verlor das fliehende Tier aus den Augen.

 

Wie war sie traurig. Und erschöpft. Sie weinte, dass ihr die Tränen heiß die Wangen herunterliefen. Und dann wurde sie wütend auf die Mama. Hätten sie das Vögelchen nur direkt begraben, wäre das alles nicht passiert! Aber Mama hatte ihr einfach nicht richtig zugehört. Sonst hätte sie gemerkt, wie wichtig es Lilje gewesen ist, den kleinen Kerl zu beerdigen. Und jetzt wurde er gefressen! Sie spürte die Wut und die Trauer wie einen kleinen heißen Stein in ihrem Inneren.

 

Und jetzt war sie allein hier im Wald. Sie weinte immer mehr und rannte weiter. Sie wusste längst nicht mehr, wo sie eigentlich war. Und dann fiel ihr ein, dass ihre Oma im Krankenhaus war und Mama richtig sorgenvoll geklungen hatte. Und als sie dann auch noch bemerkte, dass sie den Weg nach Hause nicht wusste, musste sie noch mehr weinen.

 

Was sollte denn jetzt werden? Sie fühlte eine große Einsamkeit und Verzweiflung. So schrecklich hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt.

 

Sie wischte sich mit den Ärmeln ihres Pullis über die Augen und versuchte, sich zu erinnern, welche Wege sie immer mit den Eltern gegangen war. Vergeblich. Alles sah gleich aus. Und so schön und vertraut sie den Wald auf ihren Spaziergängen mit ihren Eltern immer gefunden hatte, so unheimlich und bedrohlich fand sie ihn jetzt. Und dann stellte sie auch noch fest, dass sie fror. Sie war ja in ihren Hausschuhen und ohne Jacke rausgelaufen. Schlimmer ging es wirklich nicht.

 

Aber dann schöpfte sie Hoffnung: Sicher würde Papa nach ihr suchen. Aber was, wenn er dachte, sie sei mit ihrer Mama weggefahren?

Daran durfte Lilje gar nicht denken. Sie setzte sich an den Stamm eines Baumes, denn sie mochte nicht mehr laufen. Aber ihr wurde sehr schnell sehr kalt. Und dann wurde es auch noch dunkel. Also lief sie doch weiter. Irgendwann musste sie doch einen bekannten Weg finden!

 

Und dann dachte sie an das Christuskind in dem kalten Stall in Betlehem. Das hatte sicher auch gefroren! Sie fühlte sich dem hilflosen kleinen Baby so nah. Sie dachte: Liebes Jesuskindchen, Mama hat mir viel von dir erzählt. Du konntest Wunder geschehen lassen. Bitte schenk mir ein Wunder und bring mich nach Hause! Bitte lass mich nicht in diesem dunklen Wald erfrieren!

 

Tränenblind lief sie weiter und traute ihren Augen kaum, als sie plötzlich vor sich eine Futterkrippe sah! Angefüllt mit Heu für die Rehe stand sie einladend da und schien Lilje zu sagen: Komm zu mir. Ich kann dich mit Heu bedecken. Das wird dich wärmen. Wie einst das Jesuskindchen. Du wirst nicht erfrieren.

 

Und so kletterte Lilje in die Krippe, kroch tief ins Heu und schlief erschöpft ein. Ihre letzten Gedanken waren: Das Jesuskind wird auf mich aufpassen. Und es wird Papa zu mir führen.

Im Traum sah sie ein helles Licht. Daraus trat eine freundlich lächelnde Gestalt zu ihr. Sie hatte ein wallendes weißes Gewand und zarte durchscheinende Flügelchen. Es schien, als leuchtete sie von innen heraus. Sie kam langsam auf Lilje zugeschwebt, setzte sich vor sie hin und sang mit einer glockenhellen Stimme ein wunderschönes Lied, das Lilje noch nie gehört hatte. Es ging darum, dass sie ein Kindelein gesehen hatte, das der Retter der ganzen Welt werden sollte. Und Lilje wusste, dass sie nur das Christuskind meinen konnte. Sie fühlte sich so gewärmt, behütet und geborgen, dass sie ganz glücklich war. „Bist du ein Engel?“, fragte sie zaghaft, als die Gestalt das Lied beendet hatte. „Ja. Ich werde immer zu den Menschen geschickt, wenn sie in großer Not sind. Ich komme und stehe ihnen bei. Aber nur, wenn sie an mich glauben, können sie mich sehen. Oder spüren. Du hast darum gebeten, dass du wieder nach Hause kommst. Dein Wunsch sei dir erfüllt.“ Und damit verschwand der Engel wieder im Licht.

 

Lilje wollte aber nicht, dass er fortging. Sie war doch so glücklich gewesen in der Gegenwart des Engels. Also rief sie laut: „Halt. Bleib hier! Komm zurück. Bring mich nach Hause!“ Und dann wachte sie auf und fand sich in der Futterkrippe wieder. Sie rief weiter laut nach dem Engel. Er konnte sie doch nicht hier im Wald allein lassen!

 

Da hörte sie plötzlich laute Rufe und sah tanzende Lichter auf sich zukommen. „Hier! Hier bin ich!“, rief sie. Konnte es sein, dass eine Stimme die ihres Papas war?

Sie richtete sich in der Krippe auf und da sah sie schon, wie er mit einer Taschenlampe in der einen und einer dicken Decke in der anderen Hand auf sie zugestürmt kam. Er ließ beides fallen, hob sie aus der Krippe auf den Arm, rief immer wieder ihren Namen und lachte und weinte vor Freude. Er drückte ihren kalten kleinen Körper an sich, als auch schon die anderen bei ihnen waren. Lilje erkannte Nachbarn und Freunde ihrer Eltern. Alle riefen ganz aufgeregt durcheinander. Sie klangen so glücklich und erleichtert, dass es Lilje ganz warm ums Herz wurde. Papa wickelte sie gut in die warme Decke ein und hielt sie fest in seinen Armen. Dann rief er schnell Mama an. Lilje konnte ihr erleichtertes Schluchzen durch das Telefon hören.

 

In einer fröhlich schwatzenden Prozession gingen sie heim. Als das Ende des Waldes beinahe in Sicht kam, fing es plötzlich an zu schneien. Dicke weiße Flocken legten sich zart auf Bäume und Wege und die Gespräche verstummten. Andächtig gingen sie weiter. Einer stimmte „Leise rieselt der Schnee“ an und Lilje hatte dieses Lied noch nie so inbrünstig und glücklich gesungen. Und auf den letzten Metern kam ihnen ihre Mama entgegengelaufen. Auch sie lachte und weinte und herzte Lilje.

 

Man verabschiedete sich von den lieben Helfern, dankte ihnen herzlich und dann trugen ihre Eltern sie ins Wohnzimmer, wo ein prasselndes Feuer den Raum erleuchtete und erwärmte. Jetzt erst hörte Lilje, dass sie 5 Stunden im Wald gewesen war! Papa sagte:

 

„Oh mein Schatz, was hast du für ein Glück gehabt, dass du die Futterkrippe gefunden hast. Du wärest sonst erfroren!“

„Glück war das nicht, Papa. Das Jesuskind hat mir geholfen“, erwiderte Lilje. Und dann erzählte sie die ganze Geschichte: Wie das Tier den Vogel geholt hatte und Lilje ihn aus seinen Fängen retten wollte. Wie sie plötzlich im Wald war, den Weg zurück nicht wusste, zu dem Kind in der Krippe gebetet hatte und plötzlich vor der Futterkrippe mitten im Wald stand. Und wie sie im Heu geschlafen und der Engel sie getröstet hatte. Sie konnte ihren Eltern die Rede des Engels wörtlich wiederholen.

Diese staunten nicht schlecht. Sie drückten sie und sich immer wieder. Papa kochte ihr einen heißen Kakao und Mama wollte sie gar nicht mehr loslassen.

 

Und dann erzählten sie, was in der Zeit, die sie im Wald verbracht hatte, Zuhause geschehen war:

„Ich kam nach Hause und habe direkt gemerkt, dass du weggelaufen bist, denn die Terrassentür stand ja weit offen“, berichtete Papa. „Ich konnte es gar nicht verstehen, denn sowas hast du ja noch nie gemacht. Also rief ich Mama an, denn ich hoffte, dass du vielleicht doch bei ihr wärst. Dann rief ich deine Freunde an, die in der Nähe wohnen. Aber niemand hatte dich gesehen. Also bin durch die Straßen gelaufen und habe dich gesucht. Ich habe laut nach dir gerufen. Dadurch kamen die Nachbarn und Freunde auf die Straße und fragten, was geschehen sei. Alle wollten mir helfen. Es wurde ja auch schon dunkel. Schließlich gingen wir mit Taschenlampen in den Wald. Als ich dich nach mir rufen hörte, konnte ich mein Glück gar nicht fassen.“

 

„Ich habe gar nicht nach dir gerufen, Papa. Ich wollte doch nur nicht, dass der Engel wegging“, lachte Lilje, „aber ich war sooo froh, dich zu sehen!“

 

Plötzlich wurde ihr noch einmal ganz traurig zumute: „Was ist eigentlich mit Oma? Wie geht es ihr?“ Mama lächelte sie an: „Mein Schatz, der Oma geht es gut. Sie ist hingefallen, hat sich aber nichts gebrochen. Sie soll über Nacht im Krankenhaus bleiben. Morgen kann der Opa sie aber wieder abholen und wir können alle zusammen Weihnachten feiern“, berichtete sie erleichtert. Da freute sich Lilje noch mehr. So langsam war ihr innen wieder ganz kuschelig warm und sie schlief in den Armen ihrer Eltern glücklich ein.

 

Am nächsten Tag ging Lilje wie jedes Jahr mit ihren Eltern und Oma und Opa in den Weihnachtsgottesdienst. Papas Eltern wohnten weit weg und feierten immer mit Papas Bruder Weihnachten.

 

Lilje liebte den Weihnachtsgottesdienst. Die Kirche war ganz festlich geschmückt. Mit einer hohen Tanne voller Strohsternen und funkelnden Lichtern. Und dann war da der Stall mit Josef und Maria und dem Jesuskind in der Krippe. Lilje riss sich von der Hand ihres Papas los und stürmte zur Krippe. Die Figuren waren lebensgroß. Sie trat so nah wie möglich an das Kind in der Krippe und flüsterte: „Danke. Danke dir, kleiner Jesus! Ich weiß, dass du auch mich gerettet hast. So wie der Engel gesungen hat.“

 

Und dann feierten sie den schönsten Weihnachtsgottesdienst, den sie je erlebt hatten. Liljes Herz war voller Freude und Dankbarkeit. Und als die Weihnachtsgeschichte erzählt wurde und ein Mädchen, als Engel verkleidet, neben den Stall trat und sang, da rief sie Papa und Mama ganz aufgeregt zu: „Das ist es! Das Lied, das der Engel mir im Wald gesungen hat!“

 

„Vom Himmel hoch, da komm ich her…“ schallte es durch die festlich erleuchtete Kirche und da wusste Lilje, dass sie dieses Lied immer an die schlimmste und schönste Zeit ihres Lebens erinnern würde. Als sie so verzweifelt war, dass sie sich dem Jesuskind anvertraut hatte und dieses ihr die Krippe mit dem wärmenden Heu, dann im Schlaf den Engel und schließlich Papa geschickt hatte.

 

Nach dem Gottesdienst gab es die Bescherung. Lilje bekam ein Puppenhaus, das sie sich schon lange gewünscht hatte. Sie jauchzte vor Glück. Und ihre Eltern freuten sich ganz enorm über die selbst geknetete Krippe. Sie konnten gar nicht glauben, dass Lilje sie wirklich selbst gemacht hatte. Diese Krippe wurde zum Symbol dieses besonderen Weihnachtserlebnisses und bekam jedes Jahr einen Ehrenplatz im Wohnzimmer.

Das schönste Geschenk aber war, dass sie alle zusammen sein konnten. Das hätte für jeden Einzelnen ausgereicht. Auch ohne die anderen Geschenke.

 

Später am Abend sagte Lilje plötzlich: „Ich hab‘ ja das Wichtigste vergessen!“ Sie holte weißes Wachs aus der Bastelschublade und knetete einen kleinen Engel, den sie über der Krippe befestigte.

 

Dann strahlte sie ihre Eltern an und sagte: „Du sagst immer, dass es Weihnachtswunder wirklich gibt, Mama. Und jetzt wissen wir, dass es stimmt, nicht wahr? Es ist, wie der Engel gesagt hat: Wenn man an das Jesuskind glaubt, schickt es uns einen Engel, wenn wir in Not sind. Und wenn man das weiß, tief im Herzen, dann braucht man gar keine Angst mehr zu haben.“ Sie strahlte ihre Eltern und Großeltern an. Alle nickten ihr zu und strichen sich die eine oder andere Träne aus den Augenwinkeln.

 

„Ja, mein lieber Schatz,“ lächelte Mama sie an. „Das ist unser ganz persönliches Weihnachtswunder!“