Anders weiter

 

Kein Anruf mehr von dir, Papa.

Keine Freude in deinen Augen, wenn du mich siehst.

 

Kein Lächeln mehr von dir, Mama, keine Berührung deiner weichen Hände.

 

Keine stille Freude mehr von euch, mit einer Tasse Kaffee auf unserer Terrasse zu sitzen.

Jetzt steht er da, der entkoffeinierte Kaffee. Wer soll ihn trinken?

Wer wird mir beim Milch eingießen mit einem Lächeln sagen: „Du weißt ja, rehbraun“.

 

Überall eure Sachen:

Die hübsche weiße Vase in der sich die Tulpen so wohl fühlen: Wie viel Freude sie dir wohl gebracht hat, Mama? Jetzt erfreut sie mich.

Dein wunderschönes, selbst gemaltes Bild hängt über meinem Bett.

Die goldene Taschenuhr, die in einer anderen Zeit nicht nur die Uhrzeit, sondern auch Wohlstand anzeigte: Was sie wohl alles mit dir und deinem Papa erlebt hat, Papa?

Dein geliebtes Taschenmesser trag ich bei mir.

 

Und immer sehe ich nur: Eure Liebe zu mir. Rückblickend in allem, was ihr gesagt und getan habt. Und das macht mich gleichzeitig glücklich und traurig. Und ich weiß nicht, warum.

Habe ich euch oft genug gezeigt, wie sehr ich euch liebe?

Was ist oft genug?

Doch dann kommen auch sie: Die Erinnerungen an so viele Umarmungen, Lächeln und Worte voller Liebe. Und meine Tränen trocknen.

 

Ich radel den Weg nicht mehr zu euch. An dem Neubau vorbei. Ob das Haus schon fertig ist?

 

Mein Schlüsselbund ist jetzt leichter, meine Einkaufsliste kürzer.

 

Kein Erschrecken mehr, wenn abends um 10 Uhr das Telefon schellt.

 

Ich trage eure Sachen:

Ich brauche dein weiches Flanellhemd, Papa.

Und deine Perlenkette, Mama.

 

Jetzt ist es Mai und die Natur verschwendet sich. Leben in Fülle. Ihr habt ihn so geliebt: Den Frühling. Aber ihr seht die vielen Blumen nicht mehr.

 

Doch ihr seid jetzt im ewigen Frühling. Im Licht, im Glück, in Gottes Gegenwart. Und damit auch bei mir. Das tröstet mich und lässt mich lächeln.

 

Es geht immer weiter.

Anders weiter.

Das Paradies

 

 

 

Was ist für dich

das Paradies?

 

Wo fängt es an?

 

Wo hört es auf?

 

Und

bist du manchmal mittendrin?

 

Wie weit bist du bereit, zu gehen?

 

Und wann?

 

Spürst du es manchmal auch

in dir?

 

Ins Unbekannte

 

Bin nicht mehr da

wo ich war

 und noch nicht dort

wo ich sein werde

 

bin irgendwo dazwischen

 

bin manchmal da und manchmal dort

nirgendwo zuhause

 

bin Körper, Geist und Seele

doch

wir haben uns verlaufen

total zerfasert, nicht komplett

 

ich atme

ein und aus

und schmecke die Veränderung

zu herb

 

Gefühle tanzen mit mir

zu wild

 

das Leben fließt

es kann nicht anders

ich steh am Rand

und sehe zu

ich wünsch' mir triefend einzutauchen

erfüllt zu sein

nicht starr zu stehen

und kenn‘ den Zauberspruch

doch nicht

 

ich weiß und spüre

es ist wie's ist

und

Alles geht vorbei

 

fühle mich noch

so wie zuvor

doch kann mich selbst

dort stehen seh'n

 

Unsicherheit,

treue Gefährtin,

nimm meine Hand

 

ich gehe, ja, ich gehe

bleibe nicht stehen

setze zaghafte Schritte

ins Unbekannte

 

Dahin wachse ich

 

 

Mein Leben ist ein Fragment

 

Ich begrenze mich zu viel

 

Vielleicht werden ich nie alle Teile zusammenbringen

 

Um das leuchtende Bild meines Selbst bewundern zu können

 

Das Bild, das Gott schon längst sieht

 

Weil er mich so gemacht hat

 

 

 

Doch ich scheine durch meine Begrenzungen hindurch

 

Ich zeige mich durch meine Aussagen und Handlungen

 

 

 

Diese sind oft fragwürdig

 

zu impulsiv

 

zu zurückhaltend

 

zu fordernd

 

zu ignorant

 

zu spät

 

zu früh

 

zu wenig

 

zu viel

 

beängstigend engstirnig

 

auf subtile Weise arrogant

 

total ich-zentriert

 

und manchmal einfach vergeblich

 

 

 

Ich weiß das

 

Und manchmal schäme ich mich dafür

 

Doch es liegen gute Absichten zugrunde

 

Ich tue was ich gerade kann

 

So gut ich es gerade kann

 

Das ist manchmal nicht viel

 

Doch wenn ich nur das sehe, mache ich mich kleiner als ich bin

 

 

 

Gemeint ist, was ich sage und tue

 

liebevoll und wertschätzend

 

unterstützend und beruhigend

 

begeisternd und inspirierend

 

erleichternd und hilfreich

 

begleitend und wärmend

 

 

 

Und wenn ich darauf schaue

 

fange ich an, mich als den Menschen zu erkennen, der ich bin:

 

Ich bin der, der ich sein will

 

Denn dorthin wachse ich

 

 

 

Ich lege meine Begrenzungen ab

 

Lage für Lage

 

unaufhaltsam

 

 

 


Als Reisen noch selbstverständlich möglich war, hatte ich mit meinem Chor die Ehre und das Glück, ein familiengeführtes Hotel als letzte Gäste zu bewohnen, bevor es wegen mangelnden Interesses der Nachkommenschaft verkauft und einem neuen Zweck zugeführt wurde. Die letzten Tage dieses Hauses mitzuerleben hat mich berührt und zu folgenden Zeilen inspiriert:

Abschied zieht durch alte Räume

 

Abschied zieht durch alte Räume.

 

Wehmut, Liebe, stilles Glück.

 

Eingedenk der guten Zeiten

 

Dankbarkeit. Ein kleines Stück

 

Vertrauen in den Neubeginn.

 

Und Trauer. Denn das Ende kommt

 

– ganz egal wann – zu früh,

 

wenn man doch glücklich war.

 

 

 

Leben wurde hier gefeiert

 

und Gemeinschaft zelebriert:

 

Zuneigung und Wertschätzung,

 

Offenheit und Toleranz,

 

Mahl, Gespräch, Gesang und Tanz

 

Teilen auch der dunklen Stunden,

 

denn nur so wird Leben ganz.

 

 

 

Ankunft, Aufbruch, Glück und Abschied

 

Herzeglück und Herzeleid,

 

Laute Töne, leise Töne

 

Alles hatte seine Zeit.

 

 

 

Ist der Ort auch nicht mehr greifbar,

 

bleibt er doch in uns besteh‘n.

 

bleibt die Freundschaft und die Wärme

 

Dies Gefühl wird nie vergeh‘n.

 


Worte

Es gibt leise und laute Worte

 

Manche Worte sind hart wie Stahl. Kalt und verletzend. Manche sind aber auch süß und weich. Oder wahr und klar wie ein sonniger Frühlingstag, an dem alle Farben so strahlend und dicht in die frische, saubere Luft gemalt sind.

 

Manche Worte sind neblig, mehlig, sie wabbern durch die Luft, schmecken fad, sind unverdaulich, man muss mühselig durch sie hindurchwaten, manche machen gänzlich bewegungsunfähig.

 

Worte sind wie Nahrung. Hören wir zu viel Gefühlloses, lesen wir zu viel Belangloses, verhungert unsere Seele. Weil sie zu wenig lebendige Nährstoffe erhält.

 

Darum ist es gut, sich immer wieder mit Worten zu versorgen, die unserer Seele Nahrung geben. Worte, die uns berühren, etwas in uns zum Schwingen bringen. Die uns durch Einblick in Unbekanntes staunen lassen, Sehnsucht und Hoffnung wecken, uns die Macht unserer Innenwelt erahnen und uns vielleicht sogar selbst Ungewohntes denken lassen.

 

Worte, die alles Festgefahrene und alles Gewohnte aufbrechen, in ein neues Licht werfen. Sich trotzig aber unbeirrbar siegreich den Weg ans Licht bahnen wie ein Löwenzahn im Asphalt.

 


Stille am See


Er sah den spiegelglatten, tiefdunkelblauen See. Die Bäume und Büsche, die ihn säumten wirkten leicht, aber unbewegt. Wie in einem Gemälde von Monet. Sie spiegelten sich exakt im Wasser. Ein wundervolles Bild.

 

Und eine wundervolle Stille lebte hier. Es war eine weiche, sanfte Stille. Er konnte sie regelrecht fühlen. Sie schmiegte sich an ihn und fast fühlte er sich in ihr zerfließen. Das war Glück. Lautloses, vollkommenes Glück. Nur da zu sitzen, diese wunderschönen Farben in sich aufzunehmen: Das Dunkelblau des Sees, die verschiedenen Grüntöne der Uferbewachsung, der lichtblaue, wolkenlose Himmel, und dann diese wunderbare Stille zu kosten. Ja, vollkommen zu spüren, eins zu sein mit all dem.

 

Es gibt ja so viele Arten von Stille. So viele Gefühle, die sie auslösen kann. Es gibt die angstvolle Stille nach einem lauten Knall, die einvernehmliche Stille zweier gleich schwingender Seelen und die hilflose Stille, wenn Worte fehlen.

 

Es gibt die elektrisierende Stille vor dem ersten Kuss. Die köstliche Stille zwischen zwei Sätzen einer großen Orchesterpartitur. Aber auch die sprachlose Stille, die große Enttäuschungen mit sich bringen, oder die einsame Stille: Das Fehlen eines verzweifelt gewünschten Gegenübers.

 

Und nur Gott weiß, wie viele Nuancen der Stille sich in dieser von Geräuschen überschwemmten Welt noch verstecken. Aber diese vollkommene, alles durchdringende Stille, die sonst nur noch in großen, würdevollen Kathedralen lebt, ist die Königin unter ihnen.

 

So in seine Gedanken vertieft spürte er plötzlich einen Windhauch. Einige Blätter raschelten leicht und der Moment war verflogen. Er atmete tief einen kurzen Anflug von Trauer weg und setzte seinen Weg fort.